Kein Sauerteig sieht aus wie der andere. Der eine ist weißlich-flüssig, der andere gelblich-klumpig und ein dritter hellbraun, mit Blasen durchsetzt. In Einmachgläsern und durchnummeriert stehen sie fein säuberlich hinter Glastüren in Kühlschränken in der weltweit einzigen Sauerteig-Bibliothek im ostbelgischen St. Vith. Exakt 144 Sauerteige aus 28 Ländern hat Karl De Smedt als Hüter der Teige bisher zusammengesammelt. «Jeder Sauerteig ist einzigartig», sagt er.
Das liegt an den Ursprungszutaten, aber vor allem an den Mikroorganismen, die sich in den Sauerteigen entwickelt haben. Und zwar teils über Jahrhunderte. «Nummer 100 ist ein japanischer Sauerteig von 1875», sagt De Smedt und holt das Glas heraus. «Er ist ziemlich flüssig. Er ist der einzige aus gekochtem Reis.» Wie alle Teige, die es in den erwählten Kreis in der Bibliothek geschafft haben, hat er eine besondere Geschichte.
«Er stammt von einem der letzten Samurai in Japan», erzählt der Bibliothekar, ein gelernter Konditor und Chocolatier. Kimura-san hatte damals quasi umgeschult und sich die Kunst des Backens von einem Westler erklären lassen. «Es gab damals keinen Zugang zu Hefe, also machte er Sauerteig-Brot und er fand den richtigen Geschmack.» Noch heute werde in Japan mit dem Teig gebacken.
Von Italien, Brasilien bis nach Singapur
Zur Sammlung gehören Sauerteige aus Italien, Griechenland, China, Australien, Dubai, Singapur, der Türkei, der Schweiz und Brasilien. Aus Deutschland sind fünf Exemplare dabei, darunter einer aus Stavenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) von 1941. «Wir erforschen die Biodiversität der Sauerteige. Es werden nur Teige aufgenommen, die durch spontane Fermentierung entstanden sind», sagt De Smedt. Also keine auf Grundlage einer kommerziellen Starterkultur. «Bei den Starterkulturen wissen wir ja genau, was drin ist.»
In den Kühlschränken steht seit November 2022 auch der Sauerteig «Winfried Schmitz» aus Daleiden in der Eifel. Er hat die Nummer 138. Der Sauerteig sei so alt wie die Bäckerei – also um die 125 Jahre, sagt Manuel Schmitz. «Wir machen heute noch unser Brot damit», sagt der 42-Jährige.
Dass der Eifeler Teig in die Sauerteig-Bibliothek wenige Kilometer von der deutschen Grenze aufgenommen wurde, sei «eine Ehre», sagt Schmitz. Es sei aber auch eine Absicherung für den Familienbetrieb. Wenn wegen einer Umweltkatastrophe oder eines anderen Unglücks die Backstube mal verschwinden sollte, könne man immer auf den Teig in St. Vith zurückgreifen. «Er ist dort sicher zu Forschungszwecken archiviert.»
Es startete als Studie
Mit der Bibliothek los ging es vor fast zehn Jahren im Oktober 2013. Für die Backmittelfirma Puratos hatte De Smedt eine Studie über die Biodiversität von italienischen Sauerteigen gemacht. Dann kam ein Hilferuf von einem Bäcker aus dem Libanon. Er hatte Angst, dass sein Sauerteig, den er aus fermentierten Kichererbsen machte, verloren gehen könnte. Denn seine Söhne, die die Bäckerei übernahmen, wollten auf das Brotbacken mit Hefe umsteigen.
«Wir hatten schon 43 Sauerteige. Da kam uns die Idee, eine Bibliothek zu gründen, auch um die Teige zu bewahren», sagt der 52-Jährige. Auch als «Backup». Einmal habe sich das schon bewährt, erzählt De Smedt. Im Jahr 2021 hatte ein Bäcker aus Kopenhagen in Dänemark angerufen, weil aus Versehen der ganze Mutter-Sauerteig zum Backen benutzt worden war. «Ich schickte ihm dann ein Teil von seinem Teig. Er war sehr glücklich.»
Jeden Tag erreichen De Smedt Anfragen von Teig-Besitzern, die einen Platz in den zwölf Kühlschränken in St. Vith bekommen möchten. «Wir nehmen jedes Jahr 20 bis 25 neue auf.» Ganz frisch dabei sind zwei aus einem Kloster auf dem Berg Athos in Griechenland – darunter einer aus Mehl, der nach einer 1000 Jahre alten Tradition hergestellt werde. «Das ist ein besonderer Teig, weil der Ort isoliert ist.»
Die Vielfalt der Sauerteige fasziniert De Smedt, der an einer Roggenmehlallergie leidet, immer wieder. Es gebe griechische Teige, die mit basilikumgetränktem Wasser angesetzt worden seien. Einer aus Mexiko werde mit Bier, Eiern und Limetten gemacht. Ein Schweizer Rezept startete mit einem geriebenen Apfel. Und bei Nummer 108 aus Italien sei Wasser mit getrocknetem Kuhdung benutzt worden. In Kuhdung seien viele Mikroorganismen, die im gefilterten Wasser dazu beitragen, dass der Teig verdaulicher sei, sagt er.
Schon 1500 verschiedene Bakterien-Stämme identifiziert
Bei Neuzugängen von Teigen wird zuerst die Bakterienkultur an der Universität Bozen in Italien analysiert. «Wir konnten schon 1500 verschiedene Stämme identifizieren», sagt der Experte. Diese würden bei minus 80 Grad sicher gelagert. «So wie in der Saatgutbank in Spitzbergen Samen von wichtigen Kulturpflanzen liegen», sagt er.
Die je 500 Gramm in den luftdichten Gläsern in den Kühlschränken werden alle zwei Monate «gefüttert». Dann entnehmen De Smedt und sein Helferteam aus jedem Glas 20 Gramm und frischen den Teig in drei Stufen mit Mehl und Wasser auf – bis es wieder 500 Gramm sind.
Die Tradition des Sauerteigs ist laut De Smedt wohl älter als 10.000 Jahre. «Woher es kommt, wissen wir nicht.» Sicher wisse man aber, dass die alten Ägypter Sauerteigbrot hatten. «Sie schrieben mit Hieroglyphen auf, dass sie Bier und Brot fermentierten.»
Die Sauerteig-Bibliothek ist nicht öffentlich. Man könne sie aber virtuell besuchen, sagt De Smedt. «Es gibt keine Geheimnisse. Was wir finden, das teilen wir.» Was er sich für die Zukunft wünscht? «Ich würde gerne mehr Zeit mit dem Sauerteig verbringen.» Er denke darüber nach, jeweils 15 Sauerteige intensiv zu untersuchen. «Ich würde mit ihnen backen, ihre Entwicklung verfolgen und versuchen, so viel wie möglich über sie herauszufinden.» Und sich dann die nächsten Teige vornehmen.